Dem Kirchenjahr zufolge hat es mit Weihnachten bald ein Ende. In knapper Prosa vollzieht sich dieses im Evangelium nach Matthäus auf bestürzende Weise. Manchen Fragen, die hierdurch aufgeworfen werden, will ich in dieser Miniserie nachgehen.
Im vorangegangenen Post habe ich die Historizitätsfrage hinsichtlich des in Matthäus 2 beschriebenen Kindermords in Betlehem thematisiert und angedeutet, dass hier geschichtliche Faktentreue (die durchaus vorliegen mag) für mich nicht der entscheidende Punkt ist. Vielmehr geht es um die düstere Realität, dass es damals wie heute überall persönliche und strukturelle lebensfeindliche Gewalten, unschuldige Opfer sowie untröstliche Trauernde gibt. Auch mir, der ich mich zu dem Glauben bekenne, dass der Retter der Welt zu uns gekommen ist, erscheint die Welt mitunter heillos. Vielleicht darf ich gerade als Christ die Wirklichkeit nicht schönreden. Die Bibel jedenfalls scheint keine rosarote Brille zu kennen.
Am Ende der besprochenen Textpassage etwa lässt der Evangelist uns hören, wie Rahel weint.
Die Figur der Rahel heraufzubeschwören, halte ich in mehrfacher Hinsicht für eine faszinierende Wahl.
Laut der alttestamentlichen Erzählung stirbt sie, als sie ihr zweites Kind zur Welt bringt. Kurz vor ihrem Tod gibt sie dem Jungen den Namen Ben-Oni, „Sohn der Schmerzen“. Der Vater Jakob nennt ihn dann aber eigenmächtig Benjamin, „Sohn der Freude“/„Sohn des Erfolgs“ (1. Mose 35,18). Er kann wohl den Kummer seiner Lieblingsfrau im Namen seines Jüngsten nicht ertragen. Ich habe Verständnis für diese Entscheidung, die Vater und Kind davor bewahrt, die quälende Vergangenheit stets vor Augen zu haben. Der Preis dafür ist jedoch, dass die Stimme der verscheidenden Mutter zum Verstummen gebracht wird.
Erst viele Jahrhunderte später ist sie wieder vernehmbar. Ein gewisser Jeremia wird Zeuge, wie babylonische Truppen Rahels Nachkommen, Kinder Israels ins Exil abführen. Dieser Jeremia ist bekannt als der weinende Prophet, und als solcher befreit er seine Erzmutter aus der Stille ihres Grabes: „So spricht der Herr: Ein Geschrei ist in Rama zu hören, bitteres Klagen und Weinen. Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen, um ihre Kinder, denn sie sind dahin“ (Jeremia 31,15).
Über diesen Moment erzählten die Rabbis eine Geschichte, in der Jeremia Mose herbeibeschwört. Dieser wiederum holt die Urväter Abraham, Isaak und Jakob als zusätzliche Zeugen des tragischen Geschehens hinzu, und sie alle beten für die Nachkommen.
Gott schweigt.
Er schweigt, bis Rahel vor ihm erscheint. Ihre Worte bewirken die Wende; der Angerufene verspricht ihr schließlich, dass das Exil ihrer Kinder nicht permanent sein wird.
Auf diese Weise erklärten die Rabbis, wie es zu den Folgeversen kam: „So spricht der Herr: Verwehre deiner Stimme die Klage und deinen Augen die Tränen! Denn es gibt einen Lohn für deine Mühe – Spruch des Herrn: Sie werden zurückkehren aus dem Feindesland. Es gibt eine Hoffnung für deine Nachkommen – Spruch des Herrn: Die Söhne werden zurückkehren in ihre Heimat.“ (Jeremia 31,16-17)
Jüdische Mystiker woben die rabbinische Tradition im Mittelalter weiter, indem sie Efrata, wo Jakob Rahel begrub, zum Ort erklärten, an dem der Messias gekrönt werden würde. Er werde derjenige sein, der Rahel endlich trösten könne. Und diese werde sich erheben und ihn küssen.
Über Rahels Bestattung heißt es in 1. Mose 35: „Als Rahel gestorben war, begrub man sie an der Straße nach Efrata, das jetzt Betlehem heißt. Jakob errichtete ein Steinmal über ihrem Grab. Das ist das Grabmal Rahels bis auf den heutigen Tag.“ (Verse 19-20)
In Matthäus‘ Evangelium ist Marias Kind der verheißene Messias, und tatsächlich wird er hier von den Sterndeutern im früheren Efrata und jetzigen Betlehem als König verehrt. Und obwohl er jetzt noch Herodes‘ Mordgelüsten entkommt, wird er später unweit von Efrata auf Golgatha seine endgültige tragische Krönung erleben – aufgesetzt wird ihm eine Dornenkrone. Mehr als dreißig Jahre nach dem Kindermord zu Betlehem wird Maria das gleiche Los ereilen wie die Mütter damals. Und Gott wird es nicht anders ergehen.
Dass allein der Säugling Jesus dem von Herodes befohlenen Betlehemer Massaker an den männlichen Neugeborenen nicht zum Opfer fällt, wirft nichtsdestotrotz Fragen auf, mit denen ich Gott konfrontieren will. Fragen, auf die es keine einfachen Antworten geben kann.
Diese Fragen richte ich aber an einen Vater, der den Verlust seines eigenen Sohnes erlebt hat. Und der – das ist inzwischen meine feste Überzeugung – immer und immer wieder den sinnlosen Tod seiner Kinder beweinen muss.
Unser Gott kennt Rahels und Marias mütterliche Ohnmacht.
Als der Begründer der Prozesstheologie Alfred North Whitehead trauerte, weil sein Sohn im Alter von 21 Jahren in einem Autounfall ums Leben kam, sprach er davon, dass Gott ein Mitleidender sei, der verstehe. Er meinte damit nicht Jesus.
Er meinte den Vater.
Im Anfang der Geschichte, die Matthäus uns erzählt, verbirgt sich bereits das Lebensende des Protagonisten. Ein Ende, das uns klarmachen sollte: Der Gott dieser Geschichte erleidet Wunden.
Wagen wir es, dies für wahr zu halten?
Und wenn ja: Sind wir in der Lage, damit umzugehen?
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