Ein wichtiges Tool, Bibeltexte zu erschließen, ist das der subversiven Lesart. Subversion meint nach Wikipedia, Vorgänge, Bestrebungen oder Darstellungen, welche die bestehende soziale Ordnung (Autoritäten, gesellschaftliche Zugehörigkeiten und Hierarchien, Ausbeutung von Gruppen, Machtkonzentrationen usw.) in Frage stellen bzw. verändern wollen. Demnach versucht die subversive Lesart Bibeltexte daraufhin zu untersuchen, wo hier gesellschaftliche Missstände angesprochen werden. Man kann es auch so sagen: Diese Texte wollen das wahre Gesicht der mächtigen zeigen und das Böse anprangern.
Hilfreich für diese Lesart ist es, eigene Interpretationsmuster zu hinterfragen. Beispielsweise hilft es, wenn wir in der Interpretation von Parabeln neu überlegen, wer jeweils gemeint sein könnte. Wofür stehen die Personen aus der Geschichte? Nicht immer ist der Herrscher in der Parabel Gott. Vielleicht verbirgt sich vielmehr eine Gesellschaftskritik in dem Text. Dazu hier eine frühere Auslegung eines bekannten Gleichnisses:
Jesus fuhr mit einem Gleichnis fort. Weil er so nahe vor Jerusalem war, meinten seine Zuhörer nämlich, der Anbruch des Reiches Gottes stehe unmittelbar bevor. Er sagte: »Ein Mann aus vornehmer Familie reiste in ein fernes Land, um sich dort zum König über sein eigenes Land einsetzen zu lassen und dann zurückzukehren. Vor der Abreise rief er zehn seiner Diener zu sich und gab ihnen Geld, jedem ein Pfund6. ›Arbeitet damit, bis ich wiederkomme!‹, sagte er. Doch die Bürger des Landes hassten ihn. Sie schickten eine Abordnung hinter ihm her und ließen erklären: ›Wir wollen nicht, dass dieser Mann König über uns wird.‹ Trotzdem wurde er zum König eingesetzt. Nach seiner Rückkehr ließ er die Diener rufen, denen er das Geld anvertraut hatte; er wollte erfahren, welchen Gewinn sie damit erzielt hatten. Der erste erschien vor ihm und sagte: ›Herr, dein Pfund hat zehn weitere eingebracht.‹ – Sehr gut‹, erwiderte der Herr, ›du bist ein tüchtiger Diener. Weil du im Kleinsten treu gewesen bist, sollst du Verwalter von zehn Städten werden.‹ Der zweite kam und sagte: ›Herr, dein Pfund hat fünf weitere eingebracht.‹ Auch ihn ´lobte` der Herr. ›Du sollst über fünf Städte bestimmen‹, sagte er. Doch der nächste, der kam, erklärte: ›Herr, hier hast du dein Pfund zurück. Ich habe es in einem Tuch aufbewahrt. Ich hatte nämlich Angst vor dir, weil du ein strenger Mann bist. Du forderst Gewinn, wo du nichts angelegt hast, und erntest, wo du nicht gesät hast.‹ Sein Herr entgegnete ihm: ›Mit deinen eigenen Worten sprichst du dir das Urteil, du böser Mensch! Du hast also gewusst, dass ich ein strenger Mann bin, dass ich Gewinn fordere, wo ich nichts angelegt habe, und ernte, wo ich nicht gesät habe. Warum hast du mein Geld da nicht ´wenigstens` auf die Bank gebracht? Dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückfordern können.‹ Und er wandte sich zu den Umstehenden und sagte: ›Nehmt ihm das Pfund weg und gebt es dem, der die zehn Pfund hat!‹ – Aber Herr‹, wandten sie ein, ›er hat doch schon zehn!‹ – Ich sage euch‹, erwiderte er, ›jedem, der hat, wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat. Und nun zu meinen Feinden, die nicht wollten, dass ich über sie herrsche: Holt sie her und bringt sie vor meinen Augen um!‹
– Lukas 19,11 ff
„Ich kann gar nichts, ich habe keine Stärken“, das erzählte mir eine Schülerin während einer Unterrichtsreihe über das Thema Berufswahl. Es kann einen großen Unterschied im Leben machen, wenn man annehmen darf, dass Gott jeden Menschen mit bestimmten Stärken und Talenten ausstattet.
Traditionell werden diese Gedanken mit dem Gleichnis Jesu aus Lukas 19 in Verbindung gebracht: Ein nobler Mann, der seinen Dienern Talente gibt (was hier aber eine Währungseinheit meint), damit diese vermehrt werden würden. Am Ende kommt der Mann wieder und die Diener müssen über ihr Handeln Rechenschaft abgeben. Die Fleißigen werden gelobt, aber einer hat sein Talent versteckt und keinen Gewinn erzielt.
Und da wird der noble Herrscher auf einmal gar nicht mehr so nobel: Er nimmt dem Diener alles was er hat und man kann davon ausgehen, er nimmt ihm auch das Leben.
Das verwundert doch.
Heißt das, dass wir uns hüten sollten, unser Potential nicht voll auszuschöpfen, weil Gott ansonsten zu unserem Problem wird? Was für ein seltsames Bild von Gott. Natürlich will keiner am Ende seines Lebens sagen müssen, dass wir es verpasst haben, unser Potential zu entfalten. Die Möglichkeit, dass wir unser Leben vergeuden ist real und ernst. Das Scheitern eines Lebens ist auch bei Jesus ein wichtiges Thema. Aber ist das einzige, was Gott für Menschen übrig hat, die aus welchen Gründen auch immer gerade nicht mehr tun können, ein Schwert? (Bietet sich diese Textstelle nicht wunderbar dazu an, manipulativ Druck auf die auszuüben, die sich kirchlich engagieren?)
Vielleicht gibt es eine bessere Lesart dieses Gleichnisses.
Dazu aber zunächst ein kleiner Hinweis auf den historischen Zusammenhang. Herodes der Große (er war König in Israel zur Zeit Jesu Geburt) lag um Jahr 6 n.Chr. im Sterben und vermachte seine Königsherrschaft seinem Sohn Herodes Archelaus. Damit dieser allerdings seine Herrschaft antreten konnte, musste er zunächst nach Rom reisen, um dort offiziell als König gekrönt zu werden. Ein nobler Mann reist in ein fernes Land, um König zu werden…Da Herodes Archelaus als launischer und brutaler Herrscher bekannt war, sandten die Juden eine Abordnung von 50 Mann nach Rom, um sich beim Kaiser dafür einzusetzen, dass Archelaus nicht König über Israel würde. Aus Hass den Juden gegenüber hatte Archelaus bereits 3000 Pharisäer hinrichten lassen.
Das sind auffällige Parallelen, es scheint also, als spiele Jesus in seinem Gleichnis auf Herodes Archelaus an.
Aber was ist nun mit diesem Dienern? Die Familie des Herodes war unglaublich reich geworden. Ihr Reichtum ist entstanden, weil das Volk ausgebeutet worden ist. Herodes hatte unterschiedliche Helfershelfer eingestellt, die für ihn das Volk auspressten und Geld eintrieben. Zu diesen Helfershelfern gehörte auch die Berufsgruppe der Steuereintreiber, die Zöllner.
Das würde aber ein völlig neues Licht auf die einzelnen Figuren des Gleichnisses werfen: Der Held der Geschichte ist demnach der Diener, der sich geweigert hat, mit dem Geld zu handeln. Beim näheren Hinsehen macht das sogar Sinn, dieser Diener sagt schließlich in V.20: „Herr, siehe, hier ist dein Pfund, das ich in einem Tuch verwahrt habe; denn ich fürchtete mich vor dir, weil du ein harter Mann bist; du nimmst, was dir nicht gehört, und erntest, was du nicht gesät hast“ Ein harter Mann, der bekannt ist zu stehlen? Das klingt eher nach einem ausbeuterischen König, als nach Gott.
Ein anderes Detail. Der Herrscher fragt den Untreuen Knecht, warum er das Geld nicht auf die Bank gegeben habe und Zinsen gefordert habe. Das ist auffällig! Denn die hebräische Bibel kennt klare Gebote zum Zins:
Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volk, an einen Armen neben dir, so sollst du an ihm nicht wie ein Wucherer handeln; du sollst keinerlei Zinsen von ihm nehmen.
– 2.Mo 22.24
Du sollst nicht Zinsen von ihm nehmen noch Aufschlag, sondern sollst dich vor deinem Gott fürchten, dass dein Bruder neben dir leben könne.
– 3.Mo 25,36
Zinsen waren im Judentum streng verboten. Wie könnte dann Gott solche einen Vorschlag machen? Gott wird niemanden zur Sünde verführen, heißt es bei Jakobus…
Vielleicht ist auch der Kontext des Gleichnisses bedeutsam. Jesus erzählt dieses Gleichnis im Haus
eines Zöllners.
Sein Name war Zachäus und seine Geschichte ist bemerkenswert. Denn kurz vorher hatte Zachäus die Seiten gewechselt. Er hatte Jesus versprochen, nicht mehr für die Römer Geld einzutreiben: „Herr, die Hälfte meines Besitzes will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand etwas erpresst habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück“ (V.8)
Man kann sich ausmahlen, wie die Geschichte von Zachäus weitergegangen sein mag. Was wird sein Vorgesetzter mit ihm gemacht haben, wenn er erfahren würde, dass es von nun an keinen Gewinn mehr geben würde? Wie würde er darauf reagieren, dass Zachäus das ganze Geld an die Ausgebeuteten zurückgegeben hat? Vermutlich wird genau das passieren, was Jesus im Gleichnis andeutet: Zachäus wird nach diesem Essen in seinem Haus nicht mehr lange gelebt haben.
Was machen wir nun mit solch einem Gleichnis?
Ich denke, dass Jesus hier einen wichtigen Punkt macht. Wer der Einladung nachkommt, ihm nachzufolgen, der ist eingeladen sich auf die Seite der Menschen zu schlagen, die ausgebeutet werden und sich mit ihnen zu solidarisieren. Jesus lädt uns zu einem Statement ein: Das Böse geht bis zu diesem Punkt und nicht weiter, hier ziehen wir die Grenze, hier stoppt es – koste es was es wolle. Jesus verspricht uns leider nicht, dass es immer gut ausgehen wird, wenn wir uns für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Vielmehr lädt er uns ein, den nötigen Preis zu zahlen. Das Schwert in der Geschichte ist eben nicht für die Untreuen, es ist für die Treuen. Jesus lädt uns ein, die Seiten zu wechseln. Er selber ist diesen Weg gegangen und hat ihn mit seinem Leben bezahlt.
Ja, das ist sehr pathetisch, vielleicht klingt es sogar verrückt. Aber es ist tiefster Teil der DNA der Jesus-Bewegung, der Gedanke, das Anliegen Jesu zu teilen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.
– Jason
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