RITUS, SÜHNE UND OPFER TEIL 1

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Vor einiger Zeit habe ich in einem Post die weitgeläufige Deutung des Kreuzestodes Jesu als stellvertretende Strafübernahme (engl. Penal Substitution Atonement) hinterfragt. Das hat zu ganz unterschiedlichen Reaktionen geführt und auch dazu, dass ich selber mich tiefer in die Materie eingelesen habe. Aus verschiedenen Gesprächen ist mir außerdem deutlich geworden, dass vielfach die „alte“ Deutung deshalb so unverrückbar gilt, weil eine gewisse Vorstellung über die alttestamentliche Opferpraxis vorherrscht. Da die Autoren des neuen Testaments in der Regel auf solche Texte, Konzepte und Vorstellungen aus dem AT zurückgreifen, ist es schwer sich auf neue Interpretationen einzulassen, solange man diese mit einem bestimmten Deutungshorizont verbindet. Daher möchte ich im folgenden Post einige Erkenntnisse über die jüdische Opferpraxis teilen und daraus Rückschlüsse auf das NT ziehen.

Dabei gehe ich von folgender Annahme aus: Die Opfer im AT bilden den Wortschatz, den die NT Autoren nutzen, um das Ereignis des Todes Jesu zu beschreiben und zu veranschaulichen. Diese Texte über Riten des AT bilden dabei sprachliche Vergleiche. Es gibt Überschneidungen oder Gemeinsamkeiten zwischen den AT Riten und der Bedeutung des Todes Jesu. Das bedeutet aber nicht, dass die innere Logik der AT Riten völlig übernommen wurde bzw. von uns heute übernommen werden muss. Sie dienen als kulturelle Veranschaulichung, die zur Zeit Jesu in der jüdischen Kultur wunderbar funktioniert haben. Für uns eignet sich diese Sprache aber wenig, da wir nicht denselben kulturellen Hintergrund eines Opferrituals haben und daher die Opfersprache eher einen zusätzlichen kulturellen Graben zu uns darstellt. Wenn wir jedoch den Kerngedanken aufgreifen, den Vergleichsmoment zwischen Jesu Tod und dem jüdischen Opferkult, dann können wir daran anknüpfend heute neue sprachliche Vergleiche finden, die den Tod Jesu in unserer Kultur verstehbar machen.

Die Opfer am Jom Kippur (Großer Versöhnungstag) 

Im 3.Mose 16 wird der Ritus des jährlichen Versöhnungstages beschrieben. In den Jahren der Wüstenwanderung hatten die Israeliten ein mobiles Heiligtum, das Zelt der Zusammenkunft. Hier wird die wesentliche Funktion dieses Heiligtums schon am Namen deutlich, hier treffen sich Gott uns Mensch. Der Tempel ist der Ort, wo Menschen Gott nahen können (vgl. V.2).

Das Ritual für den Versöhungstag ist recht komplex und besteht aus mehreren Teilen. Für das Thema ist bedeutsam, dass es im Kern des Rituals um zwei Böcke ging, mit denen jeweils unterschiedliche verfahren wurde. Der eine wurde als Sündopfer geschlachtet und der andere in die Wüste getrieben. Das Blut des geschlachteten Tieres wurde vom Hohepriester in das Heiligtum getragen und dort an die Bundeslade gesprengt, genauer an das Hilasterion, den Deckel der Bundeslade. Das sollte das Ziel haben, dass das Heiligtum und das gesamte Volk Israel „gesühnt“ werden sollte von ihrer Verunreinigung.

Dieses Sündopfer hat also etwas mit kultischer Unreinheit zu tun. Das ist ein uns fremdes Konzept, was wir so längst nicht mehr kennen oder nutzen. In der Antike wurde zwischen kultischer Reinheit und der Unreinheit unterschieden. Diese Kategorien waren sowohl ethisch als auch stofflich-materiell. Das Böse war also als eine Substanz gedacht, welche andere Dinge, Orte oder Lebewesen verunreinigen konnte. Das Blut eines Opfers wurde in der damaligen Zeit als reinigend verstanden, wenn es im richtigen Ritus verwendet wurde. Das Opferblut war sozusagen ein mystisches Gegenmittel für Unreinheit. Daher ist dieses Konzept der kultischen Unreinheit nicht dasselbe wie „Vergebung der Sünden“ in einem abstrakten nichtmateriellen Sinn.

Andere Opferriten (z.B das Sündopfer in 3.Mose 4) bringen das Opfer bzw. dessen Blut dagegen in konkrete Verbindung zur Sündenvergebung. Im Antiken Verständnis war das Blut der Sitz des Lebens. Im Blut des Opfertieres wird das Leben des Volkes vertreten und kommt so wieder in Kontakt mit Gott, wenn es nämlich an den Altar als Symbol der Gottesnähe gesprengt wird. Hier kann der sinn aber auch in einer besonderen Weihe verstanden werden. Der Opfernde identifiziert sich durch Handauflegung mit dem Opfer, dessen Blut steht dann für eine reale Lebenshingabe des Opfernden an Gott. Es geht also nicht um eine Straftötung, sondern um die Hingabe des Lebens an das Heilige, an Gott.

Das zweite Ritual des großen Versöhnungstages unterscheidet sich aber von dem Gedanken der Weihe:

„Dann soll Aaron seine beiden Hände auf dessen Kopf (des anderen Opfertieres) legen und über ihm bekennen alle Missetat der Israeliten und alle ihre Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben, und soll sie dem Bock auf den Kopf legen und ihn durch einen Mann, der bereitsteht, in die Wüste bringen lassen, dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage; und man lasse ihn in der Wüste.“ (V.21)

Hier ist nicht die Rede davon, dass dieses Tier getötet werden soll. Die symbolische Handlung liegt im Kern darin, dass die Sünde aus der Mitte des Volkes Gottes weggeschafft wird an einen Ort, der vor allem „außerhalb“ ist. Es geht also darum, dass Sünde keinen Platz mehr im Volk Gottes haben soll.

Der gr. Versöhnungstag wird in mehrfacher Weise im NT aufgegriffen. So z.B., wenn im NT der Begriff „Sühne“ verwendet wird.

Im Weiteren kann auch der Begriff des Sühneortes (gr. hilasterion) darunter gerechnet werden. Dieser Begriff kommt an der besonders bedeutsamen Stelle in Röm 3,25 vor:

 

„Ihn hat Gott hingestellt als einen Sühneort (gr. hilasterion) durch den Glauben an sein Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden“

Hier ist Jesus mit dem Deckel der Bundeslade verglichen worden. Jesus tritt also an die Stelle der Bundeslade. In Jesus finden die Menschen Befreiung vom Bösen und nicht mehr im Tempel. Jesus ist außerdem der neue Zugang zur Nähe Gottes, nicht mehr der Tempel. Hier zeigt sich aber auch schon die Grenze des Bildes: Jesus ist hier sowohl das Blut des Opfertieres als auch der Deckel, an den das Blut gesprengt wird. Buchstäblich kann Jesus wohl nicht beides sein, es geht eben um die bildliche Bedeutung. Das Bild soll sagen, in Jesus finden Menschen „Reinigung“ (das Wort an sich ist schon Bildersprache!) bzw. Befreiung von oder Vergebung für Sünden und können Gott nahe sein.

Interessant ist auch, das Paulus das Konzept der kultischen Unreinheit nimmt und es auf Sünden im Allgemeinen überträgt. Für Paulus ist Jesus nicht der neue Weg um mit kultischer Unreinheit umzugehen, Jesus ist die Antwort Gottes für die Sünde der Menschheit. Dazu verlässt Paulus den kultischen Bereich und überträgt den Gedanken der Reinigung auf den Bereich der „Sünde“, der Schuld vor Gott.

Ebenfalls ist festzuhalten, dass der Begriff „Sühne“ nichts damit zu tun hat, dass Jesus die Strafe Gottes für Sünden auf sich genommen hat. Stattdessen finden wir Stellen, die den Opfertod als Weihe oder Hingabe an Gott verstehen, so in Eph 5,2:

„Und wandelt in Liebe, wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Opfergabe und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch!“


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