Die Progressive Szene in Deutschland geht die Sache falsch an.
Wir sind das Land der „Dichter und Denker“. Leider sind wir nicht das Land der Bürgerrechtsbewegungen. Mir scheint, dass wir in der progressiven Christenheit damit zufrieden sind, wenn wir richtig denken. Aber das reicht nicht.
In den vergangenen Jahren konnte ich ein paar kurze Einblicke in die inneren Strukturen der progressiven Szene der Christen gewinnen. Mein Eindruck ist, das sind die Leute, die die Zukunft der deutschen freikirchlichen Landschaft bestimmen könnten. Gute Leute.
Allerdings frage ich mich, ob wir Progressiven für diese Aufgabe gewappnet sind. Es scheint, dass wir nachjustieren müssen, da wir uns wie Thinktanks organisieren, nicht wie handlungsaktive, gesellschaftstransformierende Bewegungen. Unser Denken ist bestenfalls auf die Transformation von Organisationen ausgerichtet, nicht auf Aktivismus, Öffentlichkeit und Gesellschaftswandel. Wir sind nicht da, wo die Musik spielt.
Kommentar eines Aktivisten:
Ja, das können die Konservativen tatsächlich besser, vgl. Demo für Alle. Die sind aber auch mobilisierbar, während die Liberalen versagen, weil der Druck fehlt.
In der jüngsten Vergangenheit konnte ich ebenfalls kurze Einblicke in Bewegungen gewinnen. In Deutschland haben Aktivistinnen im öffentlichen Raum eine Willkommenskultur initiiert. Die Musik spielte auf Bahnhöfen und Flughäfen, nicht in Kirchen. Diese Menschen haben sehr schnell angepackt und unkomplizierte Kommunikationsstrukturen geschaffen. Und sie haben Geschichte geschrieben. Mit Kaffee, Kuscheltieren, Snacks und Schildern.
Kommentar:
Also, sogar mir als eher linksaußen Stehendem waren diese Bahnhofsklatscher mit den Kuscheltieren peinlich. Stimmt schon: da hat sich eine Zivilgesellschaft zum kurzfristigen (und nötigen) Anpacken für ein paar Wochen zusammengerissen und Strukturen geschaffen, die der Staat nicht aufbauen wollte – gerade das DRK und andere NGOs waren in ihrem Element, weil die als „humanitäre Paramilitärs“ einfach auf sowas trainieren, was ja noch ein ganz anderes Thema wäre: mission-focused und -trained als Wesenskern.
Aber jetzt sind bei Bleiberechtsdemos, Naziblockaden und Direkten Aktionen halt die ganzen Kuscheltier-Liberalen nicht mehr so richtig dabei. Da, wo man eigentlich Masse bräuchte. Andererseits haben sich einige dann weiter anderswo engagiert nach der Erstberührung, was ja auch viel Zählt.
Außerdem: sind nicht auch gerade die Landeskirchen mit ihren AKs Asyl und langfristigeren Initiativen bis hin zum Kirchenasyl eher nachhaltig als die jubelnden Kartoffelmassen am Bahnhof, wenn es um praktische Solidarität geht?
Vergleichbares können wir im Moment mit der #blacklivesmatter Bewegung beobachten. Öffentlichkeit, Dinge anpacken, Protest organisieren, Druck aufbauen, präsent sein, solidarisieren, mitmischen.
Martin Luther King sagte einmal, dass nicht ein einziger Fortschritt im Bereich Bürgerrechte erreicht wurde, ohne Entschlossenheit und gewaltlosen Druck. Er sah es als historischen Fakt, dass privilegierte Gruppen ihre Privilegien nicht freiwillig abgeben würden.
Wir Progressiven glauben das nicht. Als Progressive glauben wir, dass sich freiheitliche Menschenrechte von selbst durchsetzen. Wir glauben, dass die Christenheit automatisch dem Rest der Gesellschaft nachzieht. Es braucht nur ein paar Jahre länger. Hat man ja in der Frage der Frauenordination gesehen. Entsprechend befinden wir uns in einem komfortablen Wachkoma.
Kommentar:
DAS IST DOCH DAS FUCKING HAUPTPROBLEM! 🙂 wir sind alles, außer diskursprägend. Siehe gerade im vorpolitischen Raum und gerade bei den Evangelikalen: egal was, es wird erst beäugt bis verteufelt, dann beschnuppert, dann schlecht mit Jesus lackiert und schief kopiert.
Die Rechten und die Fundamentalisten in ihrer Angst vor dem Wertverfall sind da ganz anders aufgestellt. Das ist die eigentliche Tragik von uns Progressiven, wir haben uns die Butter vom Brot nehmen lassen. Viele von uns sind beispielsweise auf die Republica gefahren, wo sich innovative Köpfe über Internet und gesellschaftlichen Wandel unterhalten. Dort hat man unlängst festgestellt, dass die neurechte Bewegung diese neuen Technologien viel effektiver einsetzt, als die links angehauchten Nerds. Wir wurden von den Rechten überholt.
Und während ein Hartmut Steeb fleißig auf interessanten Demos unterwegs ist und im Moment vielleicht das Gesicht des Evangelikalismus in Deutschland ist, kommt ein gut gemeintes Zeitungs-Interview eines Michael Diener wie ein Betriebsunfall daher, auf den die Progressive Szene nicht vorbereitet ist.
Wir hängen einer gefährlichen Illusion an, nämlich dass sich der Prozess der Liberalisierung innerhalb unserer Gesellschaft und Christenheit automatisch fortsetzen wird. Wandel entsteht aber nicht von alleine. Und es gibt keine Garantie für Freiheit. Langsam dämmert es vielleicht, dass die Uhr auch rückwärts laufen kann. Es ist höchste Zeit, dass wir die Sache völlig anders angehen.
Kommentar:
Ja! Ja!
Aber was, aber wie? Das musst du schon liefern. Und sei es in groben Skizzen.
Ich spinne mal aus meiner Perspektive rum:
Entbürgerlichung des Christentums – Schluss mit der „Liebesehe“ zu einem Milieu und einer Ideologie, die uns zwischen den Dauerprügeln häuslicher Gewalt ab und zu Blumen mitbringt, damit wir nicht vergessen, wie tief wir diese Logik des Herrschaftssystems verinnerlicht haben – vom Social Media Team über die Geschlechternormen bis hin zu Wachstumskennziffern. Das wird übel. Aber bisher rennen wir ja auch nur hinterher und kopieren atemlos und schlecht. Dann kann mans auch lassen.
Solidarität als Mission: kennt man ja, das ganze missionale transformative Paradigma. Aber nach der Rauslösung aus der ungesunden Beziehung zu den Mächten&Gewalten wird das ungleich spannender: was, wenn unsere Solidarität auf Repression trifft? Das kennt man bisher selten. Aber nur weil die Polizei noch eine heilige Ehrfurcht vor, sagen wir, dem Kirchenasyl haben, heißt das nicht, dass das so bleibt. Was die Stasi konnte, kann der BND genauso. Und besser, siehe Big Data.
Das neue Narrativ: dass uns viele verlassen werden, wenn wir uns dem Kernauftrag neu und ernsthaft zuwenden, muss ich dir ja nicht erzählen. Und dass es scheiße schmerzhaft ist, ja auch nicht. Aber es werden auch Leute auf uns aufmerksam, vielleicht gerade die, die sonst zur AFD gehen. Was erzählen wir denen? Welche Sprache, welche Bilder, welche neuen großen Geschichten, die uns motivieren, 1. und 2. im Angesicht persönlicher Verluste und gesellschaftlicher Verachtung trotzdem durchzuziehen?
Ein neuer Blick auf persönliche Haltung: das ist für die tendenziell autoritätsliebenden Evangelikalen genauso hart wie für die verklemmt antiautoritären Liberalen. Aber wenn Wachstum nicht mehr Breite und Kopie heißt und wir dringend Christenmenschen brauchen, die was durchziehen, wie bilden wir die aus?
Vielleicht stimmt die Reihenfolge nicht. Aber das wären so meine Entwürfe aus der Hüfte geschossen. Nimm es als Ideenwühlkiste, 😀
Jesus sagte einmal, dass wo seine Jünger schweigen werden, die Steine schreien werden. Gott beruft die Menschheit in eine andere Zukunft und die Christen gehörten oft zu denen, die den Ruf als erstes gehört haben. Aber werden unsere Kinder einmal sagen, dass sie die Steine hören können, aber sie sich nicht sicher sind, was die heutigen Christen auf die großen Herausforderungen dieser Zeit für eine Antwort hatten?
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