Nackte Spiritualität#2 Hier

Bild

Wenn die Bibel die Erfahrungen der Patriarchen mit Gott beschreibt, dann findet man in der Bibel oft den Satz „Der Gott Abrahams“. Dahinter steckt die uralte Vorstellung, dass jede Sippe ihren eigenen Gott hat. Die Sippe des Stammvaters Abraham nennt ihren Gott also, „der Gott Abrahams“. Jede Sippe hatte ihren Gott. Und sie nannten ihren Gott nach dem Stammvater. So funktionierte Religion in der Steinzeit des Orients.

In diesem Verständnis haben Götter also ein gewisses Einzugsgebiet, einen Zuständigkeitsbereich. Und in diesem Wirkungsbereich hat der jeweilige Gott etwas zu sagen, aber ein paar Kilometer weiter fängt das Gebiet eines anderen Stammesgottes an.

In anderen Kulturen wurde dieses Denken weiter ausgeschmückt. Götter wurden nicht nur geographisch zugeordnet, sie bekamen eigene Lebensbereiche. Astarte war der Gott der Fruchtbarkeit, andere waren für Krieg, Krankheiten oder das Wetter verantwortlich. Bald jeder Lebensbereich war mit einer Gottheit belegt. Viele Götter. Polytheismus.

Im der Sippe Abrahams gab es in der Folge eine bemerkenswerte Entwicklung. Sie sollten Gott ganz anders kennenlernen. Einem späteren Anführer der Sippe, Moses, begegnete Gott und stellte sich vor:

„Hört, ihr Israeliten! Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.“

– 5. Mose 6

Im Judentum ist es zur Tradition geworden, diesen Satz mehrmals täglich zu beten. Es ist mit das wichtigste Bekenntnis im jüdischen Glauben, dass Sch’ma Jisrael. Das besondere daran ist, dass der Gott der Juden sich als der eine vorstellt. Neben ihm gibt es keinen anderen Gott. Anders ausgedrückt: Es gibt keinen Lebensbereich und keinen Ort, der nicht seiner Herrschaft und Autorität unterstellt ist. Eine bahnbrechende Idee in der Religionsgeschichte.

Das hat weitreichende Konsequenzen.

Demnach hat Gott Anspruch auf mein ganzes Leben. Nicht bloß auf den Sonntag. Nicht bloß auf bestimmte, für die Religion reservierte Zeiten und Rituale. Nicht bloß für die Dinge, die Christen eben so tun.

Überhaupt wird es mit diesem Anspruch sehr schwierig davon zu reden, dass etwas „christlich“ ist und andere Dinge nicht. Oder dass es den „geistlichen“ Bereich gibt, und den alltäglichen. Bei Mosaik gibt es eine Menge Künstler, die Jesus nachfolgen. In einigen ihrer Kunstwerke gibt es offensichtliche Bezüge zu biblischen Inhalten. Man wäre geneigt zu sagen, das sind „christliche“ Bilder, Lieder oder Theaterstücke. Aber sie sind es nicht mehr und nicht weniger, wie alles andere, was diese Künstler schaffen. Dann haben wir ab und zu einen Workshop angeboten, der sich mit Persönlichkeitsentwicklung auseinandersetzt. Auch wenn dort nicht über Gott, Glauben oder Bibel geredet wurde, so ist dies doch eine der intensivsten spirituellen Räume gewesen. Es ist nicht möglich, Gott bei solchen Dingen abzustreifen. Wenn wir von ihm durchdrungen sind, dann wird er bei allem durchkommen, was wir tun.

Auch der Titel der Serie „Nackte Spiritualität“ hat hier eine mögliche Schwachstelle, was Missverständnisse angeht. Denn wenn wir von „Spiritualität“ reden, dann ist das kein Teil des Lebens. Spiritualität ist ein anderes Wort für Leben, es umfasst alles. Spiritualität ist auch nicht auf bestimmte religiöse Handlungen wie Gebet, Lobpreis, Fasten oder Bibellesen beschränkt. Es betrifft alles, was wir tun.

Aber hier ist die große Herausforderung. Oft sind wir nämlich nicht gewohnt, über spezifisch religiöse Handlungen hinaus zu sehen. Tun wir das aber nicht, dann fehlt dem Glaube im Alltag Relevanz. Wer hat die Möglichkeit, eine Lobpreis Band mit Soundsystem und Lichtanlage auf der Arbeit im Büro einzusetzen? Somit wird Lobpreis eine Sache für besondere Momente an bestimmten religiösen Orten. Und selbst wenn man heute eine Bibel auf dem iphone oder als Hörbuch quasi überall hin mitnehmen kann, so wird es das Hören auf Gottes Stimme stark einschränken, wenn ich nicht lerne, Gott darüber hinaus wahrnehmen zu können.

Deswegen fängt nackte Spiritualität hier an.

Mit dem Wort hier.

Hier ist das Gebet oder die Übung, mit der wir uns bewusst machen, dass Gott hier ist. Er ist nicht beschränkt auf bestimmte Orte, Zeiten oder Handlungen. Er ist hier. Jetzt, in diesem Moment und an dieser Stelle.

Hier lässt uns innehalten. Denn zu schnell eilen wir über den Moment hinweg, ohne Gott hier zu erleben. Hier unterbricht den Flow, das Hamsterrad des Alltags, das uns unsensibel, taub und blind für den Moment macht. Hier bringt uns dazu, Gottes Geist durch jede Faser unseres Seins wehen zu lassen, ohne Ausnahme. Hier ist eine Art Versteckspiel. Es lässt und den verborgenen Gott in den unscheinbaren Momenten, im Alltäglichen und in der Routine finden. Da wo wir ihn nicht erwarten.

Hier lehrt uns das Staunen, lässt uns Wundersames erkennen, da wo das Leben einfach normal erscheint.

Im Grunde ist hier die Zusammenfassung des jüdischen Bekenntnisses. Schm’a! Hört! Das ist ein Ausruf, der aus dem Trott herausreißt. Es ist ein Weckruf, der Aufmerksamkeit einfordert.

Beim Windelnwechseln.

Beim Autofahren.

Beim Müllrausbringen.

Beim Gespräch am Esstisch.

Hier.

 

– Jason


Beitrag veröffentlicht

in

, ,

von

Kommentare

Schreibe einen Kommentar