Wir alle haben unsere religiöse Prägung. Sie ist für mich wie ein WG-Mitbewohner, der von Zeit zu Zeit tierisch auf die Nerven geht. In Anlehnung an Pastrix möchte ich meine religiöse Prägung einmal Francis nennen und den Leser mitnehmen in die unaufgeräumte Männer WG meiner eigenen spirituellen Reise. Nach Teil 1 und Teil 2 hier eine weitere Episode. Etwas länger, aber jetzt geht es ans Eingemachte.
Francis: Warum gibst du nicht einfach zu, dass dir einiges an der Bibel nicht in den Kram passt, du die Bibel nicht akzeptieren willst oder kannst und deshalb dir es so zurechtbiegst, wie du meinst?
Ich: Weil das nicht stimmt.
Francis: Früher hast du an die Bibel geglaubt, an die Inspiration der Schrift. Und das tust du heute nicht mehr.
Ich: Meine frühere Grundannahme war, dass alle Autoren der Bibel in allen Fragen einer Meinung waren. Denn letztlich waren sie nicht die Autoren, sondern der Heilige Geist. Die Menschen waren Gottes Kugelschreiber, mehr nicht. Inspiration bedeutete für mich, dass die Bibel von Gott wortwörtlich diktiert war. Heute stelle ich fest, dass Mose etwas völlig anderes über das Leben nach dem Tod glaubte, als Matthäus oder Paulus. Früher wäre ich nicht einmal auf die Idee gekommen, nach Unterschieden zu forschen, denn solche Unterschiede hätte es wegen meiner Grundannahme gar nicht erst geben dürfen. Ich glaube heute, dass die Bibel eine Bibliothek mit vielen Autoren ist, die sich in vielen Punkten ganz und gar nicht einig sind. In der Bibel erkenne ich eine große Debatte über das Leben, Gott und die Welt.
Francis: Dann ist die Bibel für dich einfach ein menschliches Buch. Es ist nicht Gottes Wort, nicht inspiriert und besitzt keinerlei Autorität. Ich sag ja, du hast aufgehört, an die Bibel zu glauben!
Ich: Nur weil ich andere Grundannahmen habe, heißt das nicht, dass ich gar keine habe! Christliche Theologie muss sich mit der Bibel auseinandersetzen und zwar mit der ganzen Bibel. Das Wichtigste dabei ist für mich aber, dass die Bibel nicht nur Gottes Wort ist, sondern dass sie Gottes Wort wird. Ich glaube fest, dass wenn wir uns der Bibel aussetzen, dass Gott uns dadurch anspricht und uns verändert. Alles andere ist zweitrangig.
Francis: Aber wenn du selber entscheidest, was dir aus der Bibel für dich gültig ist, dann hat die Bibel für dich keine wirkliche Autorität. Wenn du unbequeme Stellen umdeutest, dann bist du auf der falschen Seite.
Ich: Ich meine nicht, dass mein Umgang mit der Bibel ein Umdeuten ist, weil mir etwas nicht passt. Die Sache ist einfach die, wenn die Bibel eine Bibliothek ist und die Autoren mehr als Kugelschreiber waren, dann muss ich jeden Bibeltext zunächst einmal für sich nehmen und damit leben, dass die Autoren die Dinge möglicherweise jeweils anders sehen. Und dann muss ich die Bibeltexte im historischen Kontext lesen und beurteilen, erst dann kann ich erkennen, wie Gott durch die Schrift in die Gesellschaft wirkt.
Francis: Also nutzt du die historisch-kritische Methode?
Ich: Schlimmer. Die Ideen stammen sogar aus der feministischen Theologie und von Befreiungstheologen.
Francis: Und damit hängst du mich ab…Das ist eine Richtung, in die ich definitiv nicht gehen werde.
Ich: Dann lass mich dir ein Beispiel geben und du kannst sagen, was du davon hältst. Nehmen wir die Geschichte von Abraham und Hagar aus 1.Mose 16. Da heißt es, dass Abraham eine ägyptische Sklavin hat. Der Text kritisiert das nicht. Nirgends in der Bibel wird Sklaverei verboten, an anderen Stellen aber eindeutig erlaubt. Dann entscheiden Abraham und seine Frau, dass Abraham mit Hagar ein Kind zeugen wird. Auch das wird nirgend im Text als unmoralisch angesehen. Beide scheinen damit kein Problem zu haben. Es wird lediglich kritisiert, dass Abraham Gott nicht zutraute, seiner eigenen Frau Kinder zu schenken. Dass er seine Sklavin sexuell ausbeutet, wird in der Bibel nirgends negativ gesehen. Jüdische Theologen gehen davon aus, dass Abraham Hagar einfach den Rechtsstatus einer Nebenfrau kurzfristig zugesprochen hatte und damit der Sex mit ihr legal wurde. Ob Hagar das wollte oder nicht spielt im Text keine Rolle. Das war damals eben keine Thema. Kriegsgefangene Frauen durften beispielsweise gegen ihren Willen mit jüdischen Männern verheiratet werden (man lese dazu 5.Mose 21,10-14 in der Neues Leben Übersetzung). Ich gehe davon aus, dass Gott gegen Sklaverei ist und auch gegen sexuelle Ausbeutung und Zwangsehen. Die biblischen Autoren waren noch nicht an diesem Punkt. Und leider haben viele viele Christen in den amerikanischen Südstaaten daraus geschlossen, dass auch sie Sklaven halten dürften. Aber jetzt sieh einmal, was passiert, wenn ich diesen Text unter der Grundannahme lese, dass Gott hier in die Gesellschaft wirkt. Diese Geschichte hat derart Sprengkraft, dass man nur Gott dahinter vermuten kann. Die Sklavin Hagar bekommt ein Kind und flüchtet. Und auf der Flucht begegnet ihr Gott! Man glaubte damals, dass Gott in dieser Zeit nicht mit jedem Menschen einfach so spricht. Gott begegnet Priestern oder besonders bedeutsamen Menschen, aber keiner weggelaufenen Sklavin! Die Sklavin bekommt die Verheißung, dass aus ihrem Sohn ein großes Volk werden würde. Der langjährig kinderlose Abraham steht in dieser Geschichte einer Sklavin gegenüber, die hier denselben Segen wie er erhält. Gott behandelt eine weggelaufene Sklavin wie den großen Abraham. Wenn das mal keine Aufwertung der Frau ist! Und offensichtlich ist diese Botschaft bei Abraham als Wort von Gott angekommen, immerhin ist diese Geschichte in die Thora aufgenommen worden. Was Gott hier macht ist, dass der die Idee von der Gleichwertigkeit der Frau schon hier in die Gesellschaft einpflanzt. Es hat noch viele Jahre gedauert bis die Saat aufgegangen ist und auch heute muss sie noch wachsen, aber in der Schrift sehen wir deutlich die Anfänge von Gottes Wirken. Ist Gott was das Thema Menschenrechte angeht zur Zeit Abrahams am Ziel angekommen? Ganz sicher nicht. Ist Gott zur Zeit von Paulus am Ziel angekommen? Leider nein. Paulus ist weiter gewesen als Abraham, Gott hat mit der Gesellschaft schon einiges an Wegstrecke zurückgelegt. Paulus sagt so Sachen wie „In Christus ist nicht mehr Mann noch Frau, noch Sklave noch Freier, noch Heide noch Jude. Wir sind alle eins in Christus.“ Das ist ein ganz starker Satz. Aber auch Paulus ist noch nicht am Ende angekommen. Ich glaube, dass Gott auch heute noch nicht am Ende angekommen ist. Aber man verkennt meiner Meinung nach den Willen Gottes, wenn man die Weiterentwicklung innerhalb der Bibel außer Acht lässt und meint, Gott hätte diese Entwicklung mit der Fertigstellung der Bibel gestoppt. Deswegen meine ich, dass ich die Bibel eben gar nicht umdeuten muss, vielmehr erkenne ich an, dass Gott auch zur Zeit der Bibel nicht am Ziel angekommen ist. Natürlich gibt es primitive Textpassagen in der Bibel! Gott ist noch nicht fertig.
Francis: Das ist wirklich heftig! Damit öffnest du dich für Offenbarungen, die über die Bibel hinaus gehen? Das dürfte dann endgültig über alles hinausgehen, was Christen jemals geglaubt haben!
Ich: Und ich habe keinerlei Problem damit. Ich denke, dass die Idee, dass Gott uns immer noch etwas zu sagen hat, auf Jesus zurück geht. Er sagte: „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten“ (Johannes 16). Ich glaube, dass Jesus auch damals viel über Frauenrechte, Homosexuelle und vieles mehr zu sagen gehabt hätte. Aber Gott bewegt sich in unserem Tempo. Die Jünger waren noch nicht so weit, um diese Dinge zu verstehen. Wer weiß, was wir heute alles noch nicht tragen können?
Francis: Und genau das beunruhigt mich. Heute trittst du für die Gleichstellung von Homosexuellen ein. Was wird es dann morgen sein? Ich nenne das nicht Fortschritt, ich nenne das Werteverfall. Du passt die Bibel dem Zeitgeist an. Schon viele Menschen vor dir haben geglaubt, schlauer und fortschrittlicher als die Bibel zu sein. Das ist einfach nur arrogant, sich derart über die Bibel zu stellen.
Ich: Ich habe einfach keine Schwierigkeiten zu glauben, dass Gott heute noch redet. Eher finde ich es schwer nachvollziehbar, dass Gott heute schweigt und mit der Bibel alles gesagt sein sollte. Aus der Bibel selber lerne ich viel eher, dass Gott Menschen im alltäglichen Leben begegnet ist. Im Knast, auf der Straße, bei der Pause auf dem Dach, beim Schafehüten, usw. Ja, auch beim Bibellesen, das aber eher selten. Es gibt ganz faszinierende Geschichten, in denen Gott Menschen so alltäglich begegnet und sie herausfordert, ihre Einstellungen in manchen Dingen zu ändern. Man denke einmal an Petrus auf dem Dach in Apostelgeschichte 10., hier veranlasst Gott Petrus, entgegen der biblischen Gebote unreine Tiere zu essen. Faszinierend: Eine Gottesbegegnung im echten Leben und Gott sagt Petrus, er solle offen für Neues sein und sich in einem wesentlichen Punkt über die Bibel hinweg setzen. Warum sollte so etwas heute nicht auch möglich sein? Gott ist nicht in die Bibel eingesperrt, er ist heute aktiv! Wenn mein Pastor Adaumir ein lesbisches Paar trifft und Gott ihm in diesem Gespräch sagt, er solle sie segnen – dann ist das so.
Francis: Ich kann dir auf Anhieb wenigstens drei Sekten und eine Weltreligion nennen, die genau so argumentieren.
Ich: Ich weiß. Die Bibel bleibt auch für mich die Autorität in Glaubensfragen. Aber ich glaube eben in Anlehnung an Luther, dass Gott eine höhere Autorität hat. Ich muss meinen Glauben und die Bibel an Jesus messen. Daher stehe ich nicht über der Bibel. Aber wo hier ein Konflikt steht, da halte ich mich im Zweifelsfall an Jesus. Und ja, über Jesus weiß ich vor allem aus der Bibel. Aber eben auch durch meine Erfahrung mit ihm in meinem Leben.
Francis: Ich frage mich, von welchem Jesus du redest. Sprechen wir vom selben Jesus?
Ich: Wahrscheinlich ist das die wirklich tiefe und entscheidende Frage.
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