Fundamentalismus – Teil 3: Die Bibel als Neuerzählung – oder als Götzendienst

Für mich war es jahrelang gut Gewohnheit, die Bibel täglich zu lesen und zu studieren. Mein Ziel war es, die Bibel einmal im Jahr durchzulesen. Eigentlich lese ich kein Buch zweimal, mir reicht es normalerweise, wenn ich die Grundideen verstanden habe und das Buch dann gelesen im Regal steht. Bei der Bibel ist das etwas anderes, denn beim Bibellesen geht es nicht bloß um Ideen, sondern um einen inneren Wachstumsprozess. Ehrlich gesagt inspiriert mich die Bibel an sich nicht immer sonderlich – wie gesagt, ich mag es nicht, Bücher mehrfach zu lesen. Darüber hinaus sind viele Texte recht technisch oder nur durch größeren Aufwand verständlich. Was muss also passieren, damit dieser uralte Text lebendig und inspirierend wird und einen Unterschied in meinem Leben macht?

Ich meine, trotz aller Fragen sagen zu können, dass Gott in dieser Welt da am Werk ist, wo Leben entsteht, wo Heilung und Befreiung passieren. Gottes Wirksamkeit in der Welt ist aber nicht immer offensichtlich, meistens muss das unsichtbare Wirken Gottes erst sichtbar gemacht werden. Das passiert beispielsweise, indem eine Geschichte neu erzählt wird. Ich könnte Beispiel eine Geschichte über meine erste Beziehung erzählen, wie sich alles ganz toll anfühlte, aber dann alles kaputt ging und ich ziemlich fertig war. Diese Geschichte an sich würde Gottes Wirksamkeit in meinem Leben noch nicht sichtbar machen. Aber wenn ich diese Geschichte erzählen werde, wenn mein Sohn irgendwann mit verheulten Augen vor mir sitzt, weil sein Herz gebrochen ist, dann kann diese Geschichte zu einer Geschichte des Sieges werden. Dann drückt sie aus du bist nicht allein und deine Geschichte wird gut werden, wie es meine geworden ist. Natürlich werden nicht alle Geschichten gut werden, aber es gibt dieses göttliche Element, das zu unseren gewöhnlichen Geschichten dazu kommt. Unsere Geschichten können aus dem Gewöhnlichen zu etwas lebendigem erhoben werden, sie können transzendiert werden. Die Bibel benutzt dafür in Epheser 1,10 den Begriff

anakephalaiosasthai.

Das „Neue theologische Lexikon“ definiert diesen Begriff wie folgt: „ Gott hat in seinem menschgewordenen Logos die Zustände der Menschheit einschließlich der Sünde u. des Todes zu eigen angenommen u. positiv überwunden, so daß er in Jesus Christus als dem Haupt der Menschheit Schöpfung u. Menschheit erlöst u. ”wiederherstellt“.“ Die Idee ist, dass Gott Teil unserer Geschichte wird und diese Geschichte umgeschrieben wird, das Negative wird überwunden, geheilt und wiederhergestellt. Und wie macht Gott das? Durch seinen menschgewordenen Logos. Logos ist das, was Gott uns über sich selbst mitteilen möchte. Der Begriff wird in Johannes 1 mit „Gottes Wort“ übersetzt und steht für Jesus, denn in Jesus ist alles verkörpert, was Gott uns über sich mitteilen wollte.

Anakephalaiosasthai inspiriert mich unheimlich. Immer dann, wenn in gewöhnlichen Geschichten aus dem Hier und Jetzt Gottes Wirken sichtbar wird, erfüllt mich das mit Hoffnung und Leben. Die Kunst ist, dass man dieses Wirken Gottes zu erkennen lernen muss. Anakephalaiosasthai ist daher eine Art, dieses Leben zu interpretieren und zu lesen. Dabei hilft es, von anderen Menschen zu lernen, wie sie in ihren Geschichten Gott erleben. Die Bibel ist für mich vor allem das, nämlich eine Sammlung von noch einmal neu erzählten Geschichten, die Gottes Wirken in der Welt sichtbar machen. Wenn ich die Bibel lese, dann lerne ich, Gottes Wirken im Hier und Jetzt zu verstehen, indem ich die Muster erkenne und übertrage. Ich meine, dass diese Gedanken auch hilfreich im Hinblick darauf sind, was wir damit meinen, dass die Bibel inspiriert ist – also von Gottes Geist durchweht ist.

So gesehen ist die Bibel ein Werkzeug, durch das Gott uns heute hilft, Unsichtbares sichtbar zu machen, sie hilft uns Muster des Wirkens Gottes zu erkennen. Theologen sprechen von einer Wirkungseinheit, was meint, dass Gott die Bibel nutzt, um seine Ziele zu erreichen. Aber es bleibt ungemein wichtig, zwischen Werkzeug und Nutzer zu unterscheiden. Ein Hammer wird nicht zu einem Menschen, wenn ein Mensch ihn nutzt. Aus der Wirkungseinheit folgt also keine Wesenseinheit.

Im Fundamentalismus wird diese Unterscheidung allerdings aufgehoben. Vielleicht liegt hier die Unterscheidung zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus auszumachen. So wird beispielsweise auf der Internetseite der eher evangelikalen Stiftung Wort und Geist ist gesagt:

“Das Wort Gottes ist nur dann das Wort Gottes, wenn es vom lebendig machenden Geist der Liebe begleitet wird. So ist selbst wörtliche Rede Jesu, aus der heiligen Schrift zitiert, nicht mehr das Wort Gottes, wenn es nicht im Geist der Liebe gesprochen wird. (…) Natürlich ist die Niederschrift der ganzen Bibel vom Geist Gottes inspiriert und jedes einzelne Buch darin birgt Schätze für den Lernbereiten. Dennoch ist es schlicht unsinnig, jeden Bibelvers als „das Wort Gottes“ zu bezeichnen. Diese Unterscheidung zwischen dem Wort Gottes und der heiligen Schrift ist dringend notwendig.”

Wenn zwischen der Bibel und Gott nicht unterschieden wird, ist das problematisch. Beispielsweise zeigt sich das in der Formulierung „an die Bibel glauben“. Kein Glaubensbekenntnis der Christenheit hat die Bibel zum Glaubensgegenstand erhoben. Christen glauben an Gott. Erst in den Schriftbänden „The Fundamentals, A Testimony to the Truth“, die 1910-1915 veröffentlicht wurden, wird der Glaube an die Bibel postuliert. Dieses Werk hatte einen unglaublichen Einfluss auf die Entwicklung des christlichen Fundamentalismus.

Die Formulierung, dass die Bibel Gottes Wort ist, wird leider oft so verstanden, dass Gott und Bibel dasselbe ist. Ich glaube mit Johannes 1, dass Jesus das Wort Gottes ist. Die Bibel ist inspiriert (= gottgehaucht, wie nach dem Schöpfungsbericht auch der Mensch!), sie ist die heilige Schrift (hat also eine absolute Sonderstellung in der Weltliteratur, sie ist einzigartig) und sie zeugt vom Wort Gottes (und ist insofern auch Gottes Wort zu nennen). Sie ist verbindlich und unersetzlich für den christlichen Glauben. Aber die Bibel ist nicht Gott!

Die Bibel und Gott sind nicht wesensgleich, es gibt bedeutende Unterschiede. Die Bibel ist entstanden, sie hat einen Anfang und ein Ende. Sie hat ein Alter. Man kann sie zur Hand nehmen denn sie ist ein sichtbarer Gegenstand. Alles das trifft nicht auf Gott zu! Die Bibel ist auch nicht im Himmel als Herr über die Geschichte. Die Bibel wird nicht wiederkommen und ein neues Zeitalter anbrechen lassen.

Hebt man den Unterschied zwischen Bibel und Gott auf, dann ist der Weg nicht weit dahin, Gott wie die Bibel zu behandeln: Gott wird zu einem Gegenstand, den man zur Hand nehmen kann. Genauso wenig, wie sich Gott in einem Tempel fassen lässt, so passt er auch nicht zwischen zwei Buchdeckel. Daher ist die Unterscheidung von immenser Bedeutung. Erhebt man die Bibel zu einem Glaubensgegenstand, dann kommt ihr eine Verehrung zu, die nur Gott zu steht. Und das ist die Definition von Götzendienst.

Wird die Bibel zu einem Glaubensgegenstand, verheddert man sich schnell in Grabenkämpfen, als müsste die Bibel sich mit Wissenschaft, Politik und Gesellschaft messen, und wird an die Vergangenheit geheftet. Versteht man die Bibel als ein inspirierendes Werkzeug Gottes, wird das uns verändern, an die Gegenwart heften und in Gottes Zukunft führen.


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Kommentare

3 Antworten zu „Fundamentalismus – Teil 3: Die Bibel als Neuerzählung – oder als Götzendienst“

  1. […] viaFundamentalismus – Teil 3: Die Bibel als Neuerzählung – oder als Götzendienst | #wirsindmosaik…. […]

  2. Avatar von fabian

    Sehr schöner Beitrag, danke! Erinnert mich an Ausführungen des Theologen Christoph Schwöbel, die ich gerade nochmal herausgekramt habe und die hier vielleicht eine ganz gute Ergänzung sind. Schwöbel spricht von einer “Vertauschung der Fundamente” beim Fundamentalismus. Er schreibt: “Die Irrtumslosigkeit der Schrift erscheint als Basisaxiom, aus dem alle weiteren Glaubensaussagen in ihrer Gültigkeit abgeleitet werden. ‘Ich glaube an die Irrtumslosigkeit der Bibel’ wird somit zum Fundamentalbekenntnis des christlichen Fundamentalismus. Orientiert man sich an den klassischen Ausprägungen des Christentums ist damit eine Vertauschung der Fundamente vollzogen. Christlicher Glaube – das weisen alle Glaubensbekenntnisse der Tradition aus – ist Glaube an den dreieinigen Gott. Dieser Glaube ist in den biblischen Schriften bezeugt, die darum als Zeugnisse des Glaubens Autorität besitzen. Die Autorität der Bibel ist aber stets eine abgeleitete, niemals eine fundamentale.” (Aus. Schwöbel,Christoph, “Gott im Gespräch”, S. 56)

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