Kann man eigentlich (Post-)evangelikal bleiben?  – Gedanken zur Doku „Why I left my fathers faith“ mit Bart und Tony Campolo

Kann man eigentlich (Post-)evangelikal bleiben?  – Gedanken zur Doku „Why I left my fathers faith“ mit Bart und Tony Campolo

Über Tony Campolo und seinen Sohn Bart gibt es seid ein paar Tagen eine Dokumentation. Beide haben vor ein paar Monaten ein Buch herausgegeben, in dem es um die Beziehung der beiden geht und zwar vor dem Hintergrund, dass Tony Campolo einer der bekanntesten evangelikalen Prediger ist, während Bart Campolo vor einiger Zeit öffentlich gemacht hat, dass er nicht mehr länger glaubt. Den Film kann man hier „on demand“ ansehen (kostet 12€, was der Film auf jeden Fall wert ist). Hier aber einige der Kerngedanken aus dem Film und anschließend einige Kommentare von mir.

Im Film wird zunächst beschrieben, wie Bart etappenweise Glaubensinhalte neu durchdringen und über Bord werfen musste. Als Pastor einer Kirche hatte er Kontakt mit einer Menge Menschen, die schwere Dinge erlebt hatten. In seinem Umfeld hörte er immer wieder, dass Gott alles unter Kontrolle habe und wir herausfinden müssten, welche guten Absichten Gott gerade verfolge. Aber was für eine gute Absicht könnte Gott mit einer Vergewaltigung verfolgen? Bart lies den Glauben an Gottes Souveränität fallen.

Sein Vater Tony antwortete darauf, dass Gott laut Philipper 2 seine Macht beschränkt hat, um lieben zu können. Man kann nicht lieben und gleichzeitig kontrollieren. Tony glaubte nie in diesem Sinn an die Souveränität Gottes, wie Bart es in der christlichen Welt mitbekommen hatte. 

Das wiederum, wirft für Bart jedoch die Frage nach dem Gebet auf: Warum kann sein Vater als Christ überhaupt noch davon reden, dass Gott im Leben von Menschen eingreift?

Worauf hin Tony mit einer Geschichte antwortet, in der ein gläubiger Christ in einem Krankenhaus für eine Krebspatientin betete, die dann geheilt aus dem Krankenhaus gehen konnte. Er wolle für solche Geschichten Raum lassen.

Ein weiter Punkt in dem Film bezieht sich auf die Dekonstruktion der Unfehlbarkeit der Bibel. Das erlebte Bart als Student, als er auf der Universität einen Kurs belegte, in dem Ungereimtheiten und Widersprüche in der Bibel aufgezeigt wurden. Dadurch entstand eine große Unsicherheit und sein Glauben in die Schrift zerbracht. Der Professor trug ihm jedoch auf, eine Hausarbeit über den Theologen Karl Barth zu schreiben. Dort erfuhr Bart zum ersten Mal von der Idee, dass nicht die Bibel Gottes Wort sei, sondern Jesus Christus. Die Bibel gebe jedoch Zeugnis von Jesus als dem Wort Gottes. Das ermöglichte ihm für Jahre, weiter Christ zu bleiben, da er so gelassener mit den Fehlern der Bibel leben konnte.

Völlig aufgeregt rief er damals seinen Vater Tony an, der über diese Erkenntnis wohlwollend lächelte: „Was denkst du, warum ich dich damals Bart genannt habe? Ich habe dich nach Karl Barth genannt!“

Weitere Stationen waren der Universalismus (der Glaube, dass am Ende alle Menschen gerettet werden und die Hölle irgendwann leer sein wird) oder die volle Annahme von LGBTQ.

Dann erlebte Bart einen Unfall mit einer schweren Kopfverletzung, bei dem er fast gestorben wäre. Dieses Ereignis brachte ihn dazu, sich mehr mit dem Gehirn zu befassen, so dass er zu dem Schluss kam, dass die Persönlichkeit ausschließlich im Gehirn sitzt und es keine immaterielle Seele gibt.

Dennoch möchte Bart sein Leben dafür verwenden, Gutes zu tun und Menschen zu lieben. Deshalb nennt Tony ihn auch einen „Anonymen Christen“, er lebt wie ein Christ und tut die Dinge, die Jesus den Menschen aufgetragen hat, jedoch tut Bart diese Dinge nicht im Namen Jesu.

Überhaupt hat Tony eine eigene Idee, wieso Bart seinen Glauben an den Nagel gehängt hat. Es hat etwas mit der „plausibility structure“ zu tun. Als studierter Soziologe analysiert Tony, dass Bart in einem sozialen Umfeld aufgewachsen ist, in dem er den Glauben aufgesogen hat. Er wuchs darin auf. Sein Umfeld hat für ihn den christlichen Glauben plausibel gemacht, weil Glaubensaussagen in der Gruppe bestätigt wurden. Dann hat sich aber das Umfeld geändert und Bart hat nun keine Bestätigung mehr für seine Glaubensüberzeugungen erhalten. Viele Menschen, die mystische Erfahrungen machen, können diese Erfahrungen in einem Glaubenskonstrukt bewahren, wenn das Umfeld dies befürwortet. Bart schien im Film jedoch nicht völlig überzeugt von dieser Theorie zu sein.

Ein weiterer spannender Teil behandelte das Thema Sterben und Tod. Tony erzählte von Menschen, die durch den Glauben mit einem Optimismus und mit Mut gestorben sind. Geht das überhaupt, wenn man nicht an ein Jenseits glaubt?

Wie wird man sterben? Muss man als Atheist nicht in Verzweiflung sterben? Ernest Becker (ein Psychologe, der viele Gedanken von Siegmund Freud weitergedacht hat) macht deutlich, dass der moderne Mensch den Tod entweder verdrängt, oder am Gedanken, dass alles sich in ein Nichts auflöst, verzweifelt. Das Leben muss sinnlos sein. 

Für Bart gibt es auch keinen Sinn des Lebens, es gibt lediglich Bedeutung im Leben. Er sieht die Endlichkeit des Lebens als besonders wertvoll und fragt daher seinen Vater zurück:

Bist du wirklich vom Gedanken des ewigen Lebens getröstet? Oder überkommt dich manchmal auch das Gefühl, dass alles sinnlos ist? Er sagt, dass er beides kenne.

Tony hat natürlich sein gesamtes Leben für den Glauben gelebt. Nun den Gedanken zuzulassen, dass am Ende am Ende das alles nicht wahr ist, wäre auch schwer zuzugeben. Tony besteht jedoch darauf, dass bei allem Zweifel, er dennoch glaubt. Und er hofft, dass sein Sohn bei allem Nicht-glauben doch Zweifel zulassen könne, das vielleicht doch etwas an der Sache mit dem Glauben dran ist.

Beide denken schließlich darüber nach, was für sie zu einer Konversion fehlen würde. Was würde Bart wieder zum Glauben zurückbringen? Und was würde Tony dazu bringen, seinen Glauben zu verlassen?

Für Bart ist der entscheidende Punkt der Glaube an das Übernatürliche. Für ihn müsste es eine Erfahrung geben, die ihn eindeutig von der Existenz des Übernatürlichen überzeugt. Bei Tony wäre es eine Phase längeren Zweifelns, die nicht überwunden werden könnte.

Ein paar Anmerkungen zu dem Film:

Tony Campolo ist einer meiner persönlichen Glaubenshelden. Seit er vor kurzem sich für die volle Annahme von LGBTQ ausgesprochen hat, ist mir zwar nicht ganz klar, inwiefern er in den USA noch als Evangelikaler durchgeht, aber sowohl theologisch wie auch von seiner Art und seinem Einsatz für Menschen am Rand her ist Tony ein großes Vorbild.

Die Art, wie er zum einen ehrlich und warm, dann aber auch mit Überzeugung, Belesenheit und Tiefe in dem Film und auch sonst spricht, ist für mich die Messlatte für die kommenden Generationen. Da muss sich auch ein Rob Bell hinten anstellen. 

Hin und wieder wird ja darüber spekuliert, ob die Hipster-Postevangelikalen nicht alle vom Glauben abfallen und Atheisten werden. Tony Campolo ist in seinen 80er und daher ein Vorbild für diejenigen, die sich fragen, ob man auch bis ins hohe Alter in dieser Weise glauben kann. Es geht.

Ist nun Bart Campolo ein warnendes Beispiel? Ist das nicht, worauf es hinausläuft? Postevangelikale, die sich dem Humanismus zuwenden? Wenn nicht in der ersten, dann doch in der zweiten Generation?

Abgesehen davon, dass ich den Humanismus für keine schlechte Sache halte, so liegt meiner Meinung nach die Herausforderung nicht in der Vermeidung von progressiver Theologie. Im Film wird deutlich, dass Bart nicht bloß durch akademische Theologie geprägt (manche würden vielleicht sagen “verdorben”) wurde, das Leben (auch das Leben innerhalb der christlichen Welt!) selbst hat ihn dahin gebracht, wo er heute ist. Seine Dekonstruktion und Loslösung vom Glauben hat sehr viele Seiten. Das ist auch meine Beobachtung. 

Dekonstruktion ist nicht vermeidbar, wenn man gesund bleiben und leben will. Die Frage ist, ob Kirche Raum dafür schaffen kann und dennoch eine klare und inspirierende Botschaft weitergeben kann.

Die Herausforderung ist weniger das Vermeiden von Dekonstruktion, sie ist viel eher, ob die christliche bzw. evangelikale Welt einen Weg nach vorne finden kann. Ein Aufreiben an der “verkrusteten” Evangelikalen Welt hilft nicht, jedenfalls nicht dauerhaft. Und ein Vermeiden von progressiver Theologie ist ebenfalls nicht der Schlüssel.

Was mich nachhaltig an Tony Campolo begeistert ist, dass er mit beiden Beinen in der christlichen Tradition steht und diese gleichzeitig nach vorne gebracht hat. Davon braucht es mehr. 


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