Beschäftigt man sich mit liberaler Theologie, dann wird man schnell auf den Namen Rudolf Bultmann stoßen. Sein 1941 veröffentlichtes Werk Neues Testament und Mythologie. Die Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung wird manchmal in seiner Auswirkung auf die Theologie mit einem Erdbeben verglichen.
Darin argumentiert Bultmann, dass das Weltbild der Bibel mythisch ist. Damit meint er Dinge wie Wunderglaube, übernatürliche Kräfte, den Glauben in die Welt eingreifende an Geister, Dämonen und den Teufel, übernatürliche Erfahrungen wie Visionen und Versuchungen, usw.. Auch das Verständnis, die Welt bestehe aus drei Stockwerken (Himmel, Erde und Unterwelt), zählt er dazu. Im Grunde ist es alles, was sich nicht innerweltlich erklären lässt, also nicht ins wissenschaftliche Denken passt. Diese Mythen aus der primitiven vormodernen Zeit stehen für ihn dem Glauben im Weg:
„Das alles ist mythologische Rede … sofern es nun mythologische Rede ist, ist es für den Menschen von heute unglaubhaft, weil für ihn das mythische Weltbild vergangen ist. (…) Die heutige christliche Verkündigung steht also vor der Frage, ob sie, wenn sie vom Menschen Glauben fordert, ihm zumutet, das vergangene mythische Weltbild anzuerkennen. (…) Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen (…) und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des NT glauben. Und wer es macht, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht. Wenn das unmöglich ist, so entsteht für sie die Frage, ob die Verkündigung des NT eine Wahrheit hat, die vom mythischen Weltbild unabhängig ist. Es wäre dann die Aufgabe der Theologie, die christliche Verkündigung zu entmythologisieren“
Theologisch hat dies zur Konsequenz, dass Bultmann verschiedene christliche Lehren. Für ihn kann es keinen Glauben an die Erfüllung mit Heiligem Geist geben, keine Inkarnation, keine Auferstehung oder Himmelfahrt und auch kein Heil aufgrund des Kreuzestodes Jesu. Diese Mythen hätten sich „erledigt“. Sie sind Phantasien. Letztlich seien diese Dinge nicht einmal christlich, sondern aus dem Heidentum importiertes Gedankengut. Die Autoren der Bibel hätten diese Dinge frei erfunden, um Jesus oder der biblischen Botschaft mehr Bedeutung zu verleihen. Diese Dinge seien nie passiert, sie sind nicht historisch. Entsprechend können wir über den historischen Jesus so gut wie nichts sagen. Wir kennen nur die mythische Ausschmückung der Jünger, den Jesus des Glaubens und Bekenntnisses (Kerygmatischer Jesus). Wer diese Mythen der Bibel heute dennoch glauben wolle, der müsse dazu seinen Verstand an den Nagel hängen (er drückt das etwas eleganter aus: sacrificium intellectum).
Was kann man nun mit diesen Texten anfangen? Die Liberale Theologie würde nun diese Mythen eliminieren, für Bultmann könnten diese Mythen jedoch im Kern eine allgemeine Wahrheit beinhalten, die den Menschen verändern und zu seinem wahren Selbst (er sagt Existenz) hinführen könnte. Allerdings sind diese Wahrheiten von den Mythen überlagert und müssten erst entkleidet werden. Anstatt also die Mythen einfach für veraltet und bedeutungslos zu erklären, möchte er die dahinterliegenden Wahrheiten freisetzen (das nennt er Entmythologisierung). Anders ausgedrückt muss nach Bultmann die biblische Botschaft neu formuliert werden. Die biblischen Autoren hätten eben aus ihrer mythischen Weltsicht geschrieben, die uns fremd ist. Sie hatten eben kein anderes Weltbild zur Verfügung. Statt der mythischen Sprache der Antike müssen die allgemeinen Wahrheiten daher in unser Weltbild übertragen werden, so dass die Botschaft uns heute etwas zu sagen hat, verständlich wird und somit annehmbar ist (das nennt er existentielle Interpretation).
Um sich die Entmythologisierung besser vorstellen zu können, möchte ich als Beispiel die Auferstehung Jesu nehmen. Angenommen, man hätte am Ostermorgen eine Videokamera aufgestellt und die Auferstehung gefilmt, wäre etwas auf dem Film zu sehen gewesen? Bultmann hätte das mit Sicherheit verneint. Aber wenn man die Auferstehung von den übernatürlichen Elementen befreit, dann könnte eine allgemeine Wahrheit lauten, dass es eine Kraft in der Welt gibt, die stärker ist als der Tod. Diese Kraft kann uns in unserer Todesstunde halten und uns Stärke geben. Das ist Auferstehung nach Bultmann.
Bultmanns Herangehensweise an die Bibel ist viel und kontrovers diskutiert worden. Dazu wäre viel zu sagen. Ein paar abschließende Gedanken können aber vielleicht als Einstieg dienen:
Die Entmythologisierung möchte alle übernatürlichen Elemente aus der christlichen Verkündigung ausklammern, aber deren Wahrheitskern herausarbeiten. Können wir heute aber mit Sicherheit sagen, wo die Grenze ist? Führt unser Wissenszuwachs mittlerweile nicht gerade dazu, dass unsere Welt immer mysteriöser wird, Erkenntnisse eine immer kürzere Haltbarkeitsdauer haben und allgemein viel mehr Raum dem Unerklärlichen zugestanden wird?
Wird ein Glaube, der alles mysteriöse weginterpretiert nicht langweilig und eben weniger attraktiv? Wenn nämlich vom Leben im Glauben nur das erwartet werden kann, was ohnehin normal ist, wo ist dann der Reiz?
Wenn Gottes Eingreifen und Wunder nicht vorstellbar ist, warum dann noch Risiken eingehen, die uns an den Rand unserer Fähigkeiten und darüber hinaus führen? Warum im Glauben Schritte wagen, die uns in die Abhängigkeit von Gott führen?
Die Autoren der Bibel haben ein beschränkte Weltsicht gehabt und mit dem gearbeitet, was sie wussten. Kann man die neutestamentlichen Schilderungen von Jesus und der ersten Christen nicht dennoch historisch sinnvoll erklären, ohne alles als Phantasie abzutun? Kann man ein historisches Bild des historischen Palästina zur Zeit Jesu zeichnen, in die der Jesus der Evangelien hinein passt?
Die biblischen Autoren waren keine Historiker im heutigen Sinn. Sie hatten andere Ansprüche und wollten zuallererst theologische Aussagen machen. Sie haben in ihren Texten Ereignisse theologisch oder poetisch neu interpretiert, haben erlebte oder mündlich überlieferte Geschichten neu erzählt und sie gedeutet. Möglicher Weise können wir heute mit Hilfe der Geschichtswissenschaft viele offene Fragen nicht beantworten oder Ereignisse lassen sich nicht mehr historisch rekonstruieren. Manchmal scheinen historische Erkenntnisse den biblischen Texten zu widersprechen. Kann die Bibel aber dennoch ein zuverlässiges Zeugnis von Gottes Geschichte mit uns Menschen sein? Können wir in ihr nicht dennoch Gottes Fußspuren in dieser Welt erkennen?
Die Bibel spricht oft von Wundern als „Zeichen“. Sie haben also oft eine tiefere Bedeutung. Hier kann ich durchaus mit Bultmann gehen. Ist es aber wirklich heute unzumutbar daran zu glauben, dass einen Gott gibt, der mit dieser Welt verbunden ist und in sie eingreift? Können wir dem Schöpfer und Erhaltet der Welt nicht zutrauen, dass er zu solchen Dingen in der Lage ist?
Kann es sein, dass diese Realität mehr hergibt, als wir wissenschaftlich feststellen können?
– vom Jason
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