Nackte Spiritualität #?

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Der griechische Ruf „Kyrie eleison„, zu Deutsch „Herr, erbarme dich“, steht in vielen Liturgien am Anfang eines gemeinschaftlichen Gebets, das im Wechselgesang vorgebracht wird (der technische Ausdruck lautet „Litanei„). Er war innerhalb der christlichen Welt anfangs nur in der Griechisch sprechenden Ostkirche zu hören, wurde aber um das Jahr 500 in der römischen Liturgie und später auch in anderen westlichen zeremoniellen Abläufen von Gottesdiensten unübersetzt aufgegriffen.

Es handelt sich um einen Ausdruck der Huldigung, der aus vorchristlichen religiösen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen stammt. Zu Jesu Zeit etwa war es üblich, den römischen Kaiser auf diese Weise zu begrüßen, worin sich die allmählich ausbreitende Anbetung von Caesar, dem „Sohn Gottes“, bereits andeutete. Die knappe Ehrerbietungsformel sollte das Verlangen nach Rettung durch den mächtigen Herrscher und Heilsbringer in Worte fassen.

Die christliche Bewegung bezog diesen prägnanten Ausruf auf Jesus, der als der wahre Sohn Gottes ausgemacht wurde. Dieser war im Begriff, ein vollkommen anderes Reich zu errichteten als das römische – oder jedes andere menschengemachte – Imperium. Denn Christus demonstrierte, dass Gott als Mensch eher einen gewaltsamen Tod erleidet, als dass er seinen Willen mit unilateraler Gewalt durchsetzt. Dabei geht Jesu Identifikation mit uns so weit, dass er die Erfahrung von Gottesferne, ja von Gottes Abwesenheit macht.

Als die sechste Stunde kam, brach über das ganze Land eine Finsternis herein. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloï, Eloï, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
(Markus 15,34)

Manchmal ist das Leben ein einziges verzweifeltes Fragezeichen.
Manchmal scheint es so, als höre Gott unser Rufen nicht.
Als sei er taub.
Gleichgültig.
Grausam.

Vor einiger Zeit habe ich das Lied „Mercy“ von The Brilliance entdeckt, welches das vom Menschen himmelwärts geschickte Fragezeichen tatsächlich brilliant einfängt. Selten hat mich musikalische Klage derart bewegt. Hier könnt ihr den Song hören, der englische Originaltext wird mit eingeblendet.
Ich habe mir erlaubt, den simplen und brutal ehrlichen Text ins Deutsche zu übertragen.

 

ERBARMEN

Wenn ich an Gottes große Liebe denke,
denke ich an Noahs Zeit.
Damals reichte Liebe nicht aus,
und der Mensch musste sterben.
Dieser Gott, er sandte die Flut,
um die verschmähte Rasse zu töten.
Fortgeschwemmte Kinder.
Ich höre eine Mutter weinen.

Erbarmen, Herr, hab Erbarmen.
Erbarm dich meiner.
Jede Seele sucht nach dir.
Willst du uns nicht retten?
Gewähre uns Frieden.

O ferner Gott in der Höhe,
warum machst du uns blind?
Mit Augen, die nicht sehen können,
suchen wir, ohne zu finden.
Und wenn du so nah bist,
warum stehst du noch abseits,
da Frieden doch schon lang verloren ist?
Bitte hör das Schreien deiner Kinder.

Erbarmen, Herr, hab Erbarmen.
Erbarm dich meiner.
Jede Seele sucht nach dir.
Willst du uns nicht retten?
Gewähre uns Frieden.

Kyrie, eleison.
Kyrie, eleison.

Kyrie, eleison…

 

Was ist nackte, unverfälschte Spiritualität?
Viele Antworten sind denkbar.
So auch diese:
Raum für Wehklage, Anklage, Schmerz, Fassungslosigkeit, Ohnmacht.
Platz für Litanei.


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