Nackte Spiritualität#1 Religion

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Micheal Frost erzählte einmal eine bemerkenswerte Geschichte, die ich mit eigenen Worten wiedergebe. In der Community, deren Pastor er war, hatte man eine Halle erworben, die lokalen Künstlern als kostenfreie Ausstellungsfläche dienen sollte. Die Gemeinschaft unterstützte Künstler vor Ort darüber hinaus durch vielfältige Vorbereitung von Ausstellungen, was z.B. Catering, Werbung und die Laudatio beinhaltete. Michael Frost sollte nun für einen Künstler eine Laudatio halten, um dessen Ausstellung in den Räumlichkeiten der Gemeinde zu eröffnen. Am Nachmittag vor der Eröffnung wurde Michael angerufen: „Du musst unbedingt hierher kommen und dir die Bilder ansehen“, sagte ein Mitarbeiter. „Das hat Zeit bis heute Abend“ – „Nein, du solltest jetzt sofort kommen“. Es stellte sich heraus, dass der Künstler eine Ausstellung mit Nacktbildern geplant hatte. Lauter gewöhnliche Leute sind nackt fotografiert worden und hingen nun in riesigen Formaten an den Wänden. Man muss dazu sagen, dass es keine pornographischen Bilder waren. Es waren Bilder von durchschnittlichen Menschen, manche waren Alt, einer mit einer fiesen Narbe eines Motorradunfalls. An den Bildern war nichts sexy. Ist es nicht so, dass die durchschnittlichen Menschen nackt nicht sonderlich hübsch anzusehen sind? Jedenfalls hat Michael Blut und Wasser geschwitzt, da er als christlicher Pastor nun solch eine Ausstellung eröffnen würde. Er hatte sich aber entschieden, dass diese Ausstellung nicht abgesagt werden sollte. Stattdessen würde er den Abend mit der Laudatio und folgenden Worten beginnen: „Sehr verehrte Gäste. Ich möchte Sie zur Ausstellung begrüßen. Der Künstler hat uns allen ein großes Geschenk gemacht. Er hat uns geholfen, uns so zu sehen, wie Gott uns sieht und liebt. Nackt, ohne Fassade, mit allen unschönen Seiten, Narben, Falten und Gebrechen. Vor ihm sind wir bloß und ohne Maskerade.“

Das Bild der nackten Spiritualität geht genau in diese Richtung. Es geht um die Frage, wie wir ein nacktes Leben vor Gott leben können, ohne uns in falsche Religiosität zu kleiden und stattdessen reich an gewöhnlichen und außergewöhnlichen Erfahrungen werden?

Die Schrift ist voll von unterschiedlichen Geschichten darüber, wie Menschen diesen unmittelbaren Zugang zu Gott finden konnten. Mose beispielsweise hütet in Exodus 3 eine Herde Schafe, als er an einem brennenden Busch vorbeigekommen ist. Es kommt vielleicht nicht jeden Tag vor, dass ein Busch brennt, aber es kommt vor. Jemand hat eine Kippe fallen gelassen, oder ein paar Kinder haben mit Feuer gespielt. Aber Mose geht nicht einfach vorbei. Er tritt näher und guckt sich die Sache genauer an. Erst dann stellt er fest, dass der Busch brennt, ohne zu verbrennen. Gott ist in dem Busch und spricht Mose direkt an. Eine lebensverändernde Erfahrung.

Vielleicht hat der eine oder die andere eine solche besondere Erfahrung gemacht. Was aber deutlich sein dürfte ist, dass diese Erfahrungen rar sind. Sie kommen nicht häufig vor. Und es ist nicht möglich sie zu reproduzieren. Mose konnte nicht zum nächsten Busch rennen, seine Sandalen ausziehen und ein Streichholz in den Busch werfen…Die Erfahrung ist einzigartig.

Aber ist es nicht genau das, was (falsche) Religion oft versucht? Bestimmte Formen scheinen dazu da zu sein, diese besonderen Erfahrungen einzufangen und bei Bedarf zu reproduzieren. Die christliche Welt hat ganz unterschiedliche Formate und Formen entwickelt, wie Spiritualität erlebbar sein kann. Nicht selten machen Gläubige aber die Erfahrung, dass diese Formen inhaltlos werden können. Einmal wurde Jesus gefragt, warum seine Jünger nicht fasten würden. Das Fasten war eine für die Zeit Jesu gängige spirituelle Form. Aber diese Form war nicht passend für das, was Gott Neues tun wollte. Daher brauchte es neue Formen:

„Niemand reißt einen Lappen von einem neuen Kleid und flickt ihn auf ein altes Kleid; sonst zerreißt man das neue und der Lappen vom neuen passt nicht auf das alte.Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der neue Wein die Schläuche und wird verschüttet und die Schläuche verderben. Sondern neuen Wein soll man in neue Schläuche füllen. Und niemand, der vom alten Wein trinkt, will neuen; denn er spricht: Der alte ist besser.“

– Lukas 5,36

Nackte Spiritualität dreht sich also weniger darum, bestimmte Formen und Rituale zu praktizieren. Denn das Neue, was Gott tun will und worin wir ihn erfahren können, fordert immer wieder neue Ausdrucksformen. Manchmal sind wir aber zu bequem, uns neu auf die Suche zu machen. Das alte war so gut, warum sich auf den neuen einlassen? Vielleicht kann man daher sagen, dass inhaltlose Formen und Praktiken zu falscher Religion werden.

Überhaupt haben manche ja ein Problem mit dem Begriff Religion. Wohl auch, weil der Begriff mit Dingen in Verbindung gebracht wird, auf die man gerne verzichtet. Spiritualität andererseits steht oft für besondere Erfahrungen, für Transzendenz, Erleuchtung und erlebbare positiv verändernde Kräfte. Interessant ist, dass der Begriff „Religion“ ähnlich zu verstehen ist. Übersetzt ins Deutsche bedeutet er soviel wie „erneut verbinden“. Wer religiös ist, der findet eine neue Verbindung zu Gott und zum Leben.

Demnächst wird es darum gehen, nackte Spiritualität in Worte zu fassen. Es werden ganz kurze Worte sein. Sie sollen helfen, die Essenz der Begegnung mit Gott zu beschreiben. Denn dann können wir uns vielleicht immer wieder neu auf die Suche nach den Dingen, Formen, Übungen, usw. machen, die uns helfen können. Nicht dass diese Hilfsmittel die Begegnung mit Gott ersetzen oder herbeizaubern. Aber vielleicht helfen sie uns, Gottes Nähe wahrnehmen zu können. Vielleicht müssen diese „Schläuche“ immer mal wieder gewechselt werden, damit wir die Voraussetzungen schaffen, um neuen Wein auf nehmen zu können. In jedem Fall dürfte es aber entscheidend sein, den Blick dafür zu gewinnen, was hinter der Form steckt. Diese nackte Begegnung mit Gott.

– Jason


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