Fundamentalismus Teil 4 – Was Bibelkritik ist und warum wir darauf nicht verzichten können

Nach dem Abitur habe ich in Dortmund Geschichte und Germanistik studiert. Später versuchte ich es auch an eine, freikirchlichen theologischen Institut, das war allerdings weniger von Erfolg gekrönt. An der Universität hat es dagegen ganz gut geklappt. Besonders das Geschichtsstudium hat die Art und Weise, wie ich Glauben verstehe, sehr nachhaltig beeinflusst. Ein wesentlicher Lernfortschritt war die Erkenntnis, dass Begriffe über die Zeit einen Bedeutungswandel mitmachen. Immer und immer wieder wurde in Seminaren und Vorlesungen aufgezeigt, dass wir unter Begriffen etwas anderes verstehen, als zu vorherigen Zeiten. Das Germanistik Studium hat mir dagegen geholfen, Muster und Strukturen in literarischen Texten zu erkennen, ein Gefühl für unterschiedliche Textgattungen zu bekommen und Zusammenhänge zu verstehen. Beides hilft mir heute ungemein im Umgang mit der Bibel.

Nehmen wir beispielsweise den Begriff „Familie“. Heute verstehen wir darunter zwei Menschen, die sich aus freiem Willen vor einem Standesamt lebenslange Liebe und Treue versprochen haben – und deren 1,38 Kinder. In der Antike gibt es dagegen gar kein Wort für Familie. Dort spricht man vom Oikos, dem Haushalt. Dessen Oberhaupt ist der Hausvater. Ihm gehören alle Mitglieder des Haushalts, seien es Kinder, Ehefrauen (Mehrzahl!), Nebenfrauen, Sklaven, usw. Zu einem Haushalt können um die 40 Personen gehören. Spannend ist, dass diese Haushaltsmitglieder hierarchisch nicht gleich waren. Die Hausväter würden beispielsweise ihre Töchter verheiraten. Das ist der Hintergrund von 1.Korinther 7, 36ff. In Korinth fragten sich die Hausväter, ob sie ihre Töchter noch verheiraten dürften, da schließlich das Reich Gottes bald anbrechen würde (viele moderne Übersetzungen haben „verheiraten“ durch „heiraten lassen“ übersetzt, die Elberfelder Übersetzung hat die historisch sinnvolle Übersetzung in der Fußnote). Ein anderes Beispiel ist die Formulierung „er und sein Haus“ (z.B. Apg 11,14), wenn es beispielsweise darum geht, dass sich das ganze Haus, also der Oikos, dem Christentum anschließt. Das kommt im Neuen Testament immer wieder vor. Ist es wahrscheinlich, dass sich 40 Leute auf einmal frei entschließen, den christlichen Glauben anzunehmen? Der Punkt ist, dass wenn der Hausvater seinen Glauben ändert, seine untergebenen Hausmitglieder es ihm gleich tun werden, denn so funktionierten Haushalte in der Antike.

Das spannende am Geschichtsstudium ist, dass man immer mehr Unterschiede zwischen unserer Zeit und der Vergangenheit kennenlernt. In der wissenschaftlichen Forschung nennt man das Kritik. Die historische Kritik ist also das Bemühen, zwischen unserer Zeit und der Vergangenheit zu unterscheiden. Es geht also bei der Bibelkritik nicht darum, dass man den Bibeltext abwertet und bemängelt, sondern es geht um eine gewissenhafte Einordnung. Die Geschichtswissenschaft hat dabei verschiedene Methoden entwickelt, um diese Unterschiede herauszuarbeiten. Man spricht aber von der historisch-kritischen Methode, fasst damit aber wenigstens acht Methoden zusammen. Die Theologie hat diese Methoden später von den Historikern übernommen.

Ich selber habe also noch vor meiner Bibelschulzeit die historisch-kritische Methode studiert und dieses Denken an zig Beispielen geprobt und verinnerlicht. Aber dennoch ist diese Methode für viele fundamentalistische Christen der Innbegriff all dessen, was dem Christentum schadet. Nur warum ist das so? Vielleicht geht es um die Frage, ob man heute noch an Wunder glauben kann. Damit tun sich zugegeben viele in der akademischen Welt schwer. Vielleicht ist das Problem, dass diese Methode sehr technisch ist und es nur wenige schaffen, ihre Ergebnisse inspirierend und für das Leben fruchtbar aufzubereiten. Aus meiner Sicht besteht die grundlegendere Streitfrage aber viel mehr darin, ob man die Bibel überhaupt aus ihrer Zeit heraus verstehen muss, oder ob es sich um zeitlose Wahrheiten handelt.

Der Begriff zeitlose Wahrheit hört sich irgendwie richtig an, zumal er auch selten dort diskutiert wird, wo er genutzt wird. Wenn man davon redet, dass die Bibel eine zeitlose Wahrheit ist, dann impliziert dieser Begriff, dass es keinen Unterschied zwischen der Bedeutung des Bibeltextes für uns heute und den Menschen in der Antike gibt. Man ignoriert den zeitlichen und kulturellen Graben zwischen unserer Zeit und der Vergangenheit. Dementsprechend projiziert man sein eigenes Textverständnis auf die Antike zurück und geht davon aus, dass man den Begriff schon richtig versteht. Steht in der Bibel der Begriff „Familie“, muss entsprechend unser Verständnis dasselbe sein, wie die Autoren von Genesis und andersherum. Dieses Phänomen nennen die Historiker Anachronismus. Ironischer Weise tappen Fundamentalisten daher in dieselbe Falle, vor der sie liberale Christen immer warnen: Denn der Vorwurf lautet ja, dass sich Liberale den Text so hinbiegen, wie sie es gerne hätten und sich eben nicht an der richtigen Bedeutung orientieren. Ich meine, dass man der ursprünglichen Bedeutung nur über historisch-kritische Analyse nahe kommt.

Die Bibel enthält eben keine zeitlose Wahrheiten, sondern in die Zeit gesprochene und auf eine Zeit bezogene Wahrheiten. Erkennt man, was eine biblische Passage in ihrer Zeit gemeint hat und bezwecken sollte, dann kann man dies als Muster in unsere Zeit übersetzen und daraus lernen. Diesen Prozess des Übertragens von Mustern nennt man Kontextualisierung. Deswegen ist die Bibel für alle Zeiten relevant und kann sich überall bewahrheiten – so man sich die Mühe macht, und die Muster herausarbeitet.

Rachel Held Evans hat für ihr Buch „Mein Jahr als biblische Frau“ versucht, ein Jahr lang biblische Gebote für Frauen umzusetzen. In einem Monat versucht sie herauszufinden, was biblische Unterordnung bedeutet. Sie untersucht verschiedene Bibelstellen, die von Unterordnung sprechen, und findet heraus, dass die Unterordnung der Frau unter den Mann immer auch im Zusammenhang mit der Unterordnung von Sklaven unter ihre Herren steht. Sie stellt fest, dass diese Bibelstellen aus dem römischen Haushaltskodex stammen. Die Apostel hätten dieses System nicht deshalb befürwortet, weil Gott es als seinen Willen für christliche Familien offenbart hatte, sondern weil es die einzige damals bekannte stabile und respektierte Ordnung war. Es sei das beste System gewesen, das die damalige Kultur zu bieten hatte. Sie schlussfolgert:

„Der Haushaltskodex, der in den Briefen der Apostel zu finden ist, unterscheidet sich jedoch erheblich von denen, die in der heidnischen Literatur der damaligen Zeit auftauchen. Sie stellen gewissermaßen eine Art christlichen Remix der griechisch-römischen Moral dar. (…) Während der typische griechisch-römische Haushaltskodex vom Haushaltsvorstand nicht verlangte, diejenigen, die ihm untergeordnet waren, anständig zu behandeln, ermutigten Petrus und Paulus die Männer, freundlich zu ihren Sklaven zu sein, sanftmütig ihren Kindern gegenüber und ihre Frauen so zu lieben, wie sich selbst.“

Der Haushaltskodex werde in der Bibel nicht deshalb aufgegriffen, weil er an sich etwas Heiliges sei, sondern weil die Urgemeinde versuchte, den christlichen Glauben und die damalige Kultur so miteinander zu verbinden, dass sowohl die Würde der neuen Christen als auch die vorherrschenden sozialen und gesetzlichen Normen der damaligen Zeit gewahrt blieben. Entsprechend stellt sie die Frage, ob dies zwangsläufig bedeute, dass Christen an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten sich nicht weiterentwickeln könnten.

Ich meine, wenn man versteht, dass die Apostel damals Kultur und Evangelium zu verbinden suchten, dann müssen wir das heute auch. Da sich die Kultur verändert hat, müssen wir zu anderen Lösungen kommen. Die Muster müssen übertragen werden.


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